Porträt

Kreis als Klammer für Ruhrtal und Hügelland

Meine erste Begegnung mit dem Ennepe-Ruhr-Kreis endete in der Sackgasse. Als zehnjähriges Kind steckte ich in einer Felsspalte in der Kluterthöhle in Ennepetal fest. Weil dort konstant etwa elf Grad herrschen, wurde ich für die Abenteuer-Führung in einen dicken Parka gezwängt, mitsamt Wollpulli darunter. Derart gepolstert gab es im steinigen Nadelöhr kein Vor und Zurück mehr. Erst die sanfte Gewalt des Höhlenführers konnte das Ruhrgebietskind aus seiner misslichen Lage befreien. Erst nach zwei spannenden Stunden war alles vorbei, durch den schmalen Ausgang verließen wir die Höhle wieder, im Ohr das leise Rauschen der Ennepe, deren Flussbett wenige Meter unter uns lag.

Die Ennepe ist es auch, die dem Kreis 1929 zusammen mit der Ruhr den Namen gegeben hat: Ennepe-Ruhr-Kreis.  Die Ennepe entspringt in Halver im benachbarten Märkischen Kreis und fließt zunächst nach Nordwesten; an der Stadtgrenze von Ennepetal und Gevelsberg biegt sie nach Nordosten ab und mündet nach 35 Kilometern im Talkessel von Hagen in die Volme. Aus dem Hochsauerland findet die Ruhr ihren 40 Kilometer langen Weg durch das Kreisgebiet. An ihrem windungsreichen Verlauf liegen Hattingen, Witten, Wetter und Herdecke. Die im reizvollen Ruhrtal wie auf einer Perlenkette aufgereihten Burgen - heute in der Mehrzahl nur noch Ruinen auf steilen Bergkegeln - geben Hinweise auf Machtkämpfe längst vergangener Tage.

Kohle und Stahl haben an beiden Flüssen von jeher den Pulsschlag der Wirtschaft bestimmt, Regionen aus einem Guss sehen aber dennoch anders aus. Viel zitierte Gründe: An der Ruhr und an der Ennepe haben sich unterschiedliche Industrien entwickelt, deren besondere Traditionen auch die Menschen prägten. Und der Ennepe-Ruhr-Kreis vereint zwei Landschaften in sich: im Norden das Ruhrtal und im Süden das Hügelland.

Witten und Hattingen bilden zusammen mit Wetter und Herdecke den Nordgürtel des Kreises. Durch sie windet sich die Ruhr, über der verlassene Burgen thronen. Burg Blankenstein bei Hattingen ist teilweise erhalten, während von der Burg Altendorf in unmittelbarer Nachbarschaft sowie Burg Hardenstein bei Herbede nur noch Ruinen zeugen. Rudimentäre Reste sind auch von der Isenburg übrig geblieben. Hier wohnte einst Carl Friedrich Graf von Isenburg, der sich in Auseinandersetzungen mit dem Kölner Erzbischof Engelbert einer Verschwörung schuldig gemacht hatte. Der Geistliche wurde am 7. November 1225 auf seinem Weg in die Domstadt meuchlings gemordet, Carl Friedrich daraufhin hingerichtet, seine Isenburg nur ein Vierteljahrhundert nach deren Errichtung zerstört. An der Stelle, wo Engelbert zu Tode kam, entstand ein Kloster. Dieses bildete die Keimzelle für die spätere Südkreis-Stadt Gevelsberg. So gesehen gab es vor 800 Jahren eine erste Verbindung zwischen dem nördlichen und südlichen EN-Kreis, allerdings eine blutige.

Ausgesprochen friedvoll spielt sich dagegen das heutige Leben an der Ruhr ab. Ausflügler bevölkern die Ruinen oberhalb des Flusses und die Gehwege entlang der Ruhr, während Sportler die Oberfläche des Wassers durchpflügen. Die fließende Ruhr gehört mehrheitlich den Ruderern und Kanuten, während sich die gestaute Ruhr auf den Seen Kemnade (bei Witten), Harkort (bei Wetter) und Hengstey (bei Herdecke) hauptsächlich die Segler zu Eigen gemacht haben. Und rundherum drehen sich die Freizeitsportler wahlweise auf zwei Rädern oder vier Rollen im Stausee-Kreisverkehr.

Früher drehte sich entlang der Ruhr alles um Kohle. Südlich des Flusses stand einst die Wiege des Bergbaus, im Muttental zu Witten. Da die Kohleschichten des Karbons hier bis zur Erdoberfläche reichen, kratzte man schon früh im Tagebau die Kohle von der Oberfläche, baute die ersten horizontalen Stollen. Allmählich in die Senkrechte orientierte man sich ab 1832 auf der Zeche „Nachtigall“, die nicht nur eine der ersten Tiefbauzechen war, sondern um 1850 auch eine der größten Grubenanlagen des Reviers. Die inzwischen denkmalgeschützte, zum Westfälischen Industriemuseum gehördende Zeche und der „Bergbaurundweg Muttental“ erzählen diese Geschichte heutigen Besuchern eindrucksvoll.

Auch in Sprockhövel, in den zwanziger Jahren des letzten  Jahrhunderts noch „Südspitze“ des Bergbaus, förderte etwa die Zeche „Alter Haase“ jede Menge Kohle zutage. Noch in der 1950er Jahren speiste Sprockhövels Kohle das Winzer Elektrizitätswerk bei Hattingen, wobei der Brennstoff per Seilbahn einschwebte. Doch weil sich die Flöze nach Norden immer tiefer in die Erde eingegraben haben, hat der Bergbau die Ruhr längst verlassen.

Vergangenheit ist auch die Hattinger Stahlgeschichte. Die traditionsreiche Henrichshütte, deren Gelände sich mittlerweile in einen modernen Landschafts- und Gewerbepark verwandelt, ist heute Teil der „Route der Industriekultur“ und präsentiert in einer Dauerausstellung den „Weg des Eisens“ – eine Konzeption, für die das 1854 gegründete Hüttenwerk prädestiniert ist. Denn neben der Erz- und Kohleförderung wurden hier Koks, Eisen und Stahl nicht nur produziert, sondern auch gegossen, geschmiedet, gewalzt, bearbeitet und montiert. Zeitweise bis zu 10.000 Menschen arbeiteten in den Betrieben der Henrichshütte, deren Ende 1987 beinahe eine ganze Stadt - Hattingen - in den Ruin getrieben hätte.

Ins Hügelland geht es über Schwelm, die Kreisstadt, oder über Sprockhövel und Gevelsberg. Die Autobahn 43 liftet Fahrer und Insassen von Höhenmeter 59 am Ruhrufer bei Hattingen schnell auf etwa 200 Meter über dem Meeresspiegel. Es wird kälter und regenreicher. Im hochgelegenen Süden des Ennepe-Ruhr-Kreises ist es durchschnittlich zwei Grad kühler als im Ruhrtal. Der Frühling lässt dort 14 Tage länger auf sich warten, obendrein schneit es häufiger. Meteorologen haben in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts nachgezählt: An der Ruhr fielen Flocken an 18 Tagen im Jahr, an der Ennepe waren es 43. Ähnlich verhält es sich mit dem Regen: Was über Wupper (Wuppertal ist eine der regenreichsten Städte Deutschlands) und naher Ennepe niederging, kann nicht noch einmal an der Ruhr abregnen.

Neben Hügeln und Tälern kennzeichnet der Wasserreichtum den südlichen Ennepe-Ruhr-Kreis. Gleich vier Talsperren wurden hier zur Wende ins 20. Jahrhundert angelegt. Die Ennepe-Talsperre in Breckerfeld ist mit Abstand die größte, gefolgt von der Hasper Talsperre (nun auf Hagener Stadtgebiet, bis zur Kommunalreform 1975 zu Ennepetal gehörend), der Glörtalsperre (auch die „Badewanne Breckerfelds“ genannt) und der Heilenbecker Talsperre in Ennepetal. Früher auch für andere Zwecke genutzt, dienen diese Reservoirs heute ausschließlich der Trinkwasserversorgung. Und zunehmend der Naherholung: Per Rundwanderweg können Seen und Staumauern erkundet werden.

Die Bäche und Flüsschen, die die Talsperren speisen, waren auch für die industrielle Entwicklung des Gebietes ab dem 17. Jahrhundert entscheidend. Denn damals erkannten die Schmiede der Region, wie sie sich die Wasserkraft nutzbar machen konnten. Sie entwickelten zahlreiche Mühlhämmer. Wieder zählte die Wissenschaft nach, diesmal im Jahr 1804. Damals hämmerte es an der Ennepe auf heutigem Kreisgebiet in 46 Betrieben, die Eisen verarbeiteten. Und entlang der kleinen Heilenbecke reihten sich auf einer Länge von nur sechs Kilometern 15 Hämmer wie große Perlen an der flüssigen Schnur. Heute drehen sich wenige Wasserräder nur noch, um von ihrer Vergangenheit Zeugnis abzulegen.

Auf der Suche nach neuen Nutzungsmöglichkeiten für alte Bauwerke sind die Städte Schwelm und Gevelsberg auch bei ihren „guten Stuben“ fündig geworden. Schloss Martfeld (in der Kreisstadt) und Gut Rocholz (Gevelsberg) ziehen keinen streitlustigen Ritter mehr an, sondern heiratswillige Paare in die Trauzimmer. Das an Jahren reiche historische Ambiente hat schon so manche Eheleute angespornt, den Bund fürs Leben wörtlich zu nehmen und seine Dauer am Alter der Gemäuer auszurichten. Immerhin fand Gut Rocholz erstmals 1367 urkundliche Erwähnung.

Neben Wasser gibt es im südlichen Ennepe-Ruhr-Kreis natürlich auch reichlich Wald und Wiesen. Die Bewohner sprechen gern vom „Pantoffelgrün“, das vor ihrer Haustür liegt und das sie ohne ihre Puschen abzulegen erreichen können. Wozu in die Ferne schweifen? Wie ein Spinnennetz durchziehen gut markierte Wanderwege Gehölz und Gelände.

Manch steil abfallender Acker dient im Winter als Skipiste. Ennepetal kann auf der „Teufelswiese“ seine Stadtmeister auf zwei Brettern küren, muss die Titelkämpfe nicht an den Kahlen Asten verlegen. Der Wengeberg in Breckerfeld ist mit 442 Metern die höchste Erhebung des Ennepe-Ruhr-Kreises – mehr als ein Vorposten des Sauerlandes. Einen entscheidenden Nachteil hat der alpine Wintersport jedoch: Es gibt nur zwei Schlepplifte. Einen in Breckerfeld und einen in Hattingen (immerhin der nördlichste Freiluftskilift des Ruhrgebiets). An allen anderen Hängen sind zumindest bergauf nordische Kletterkünste mit Muskelkraft gefragt.

Auch wenn vieles für viele bis heute nicht aus einem Guss zu sein scheint, der Ennepe-Ruhr-Kreis ist die Klammer, die Ruhrtal und Hügelland zusammenhält.